Lü·cke
- Amrei
- 24. Mai 2022
- 3 Min. Lesezeit
Ich habe »Bira« schon vorgestellt.
Als langes und wichtiges Familienmitglied. Sie ist eine Katze mit eigenen Abenteuern und einer eigenen Geschichte. Ein Tier mit großer Bedeutung. Doch warum ist Mira eigentlich so bedeutend?
Im Grunde ist das recht einfach beantwortet: weil sie gerade einen ganz neuen und wichtigen Platz einnimmt. Einen der schön ist und das Herz erwärmt – einen, der – nicht nur mir – auch Angst macht. Es geht um eine Freundschaft und gleichzeitig um den bevorstehenden Verlust.
Ich kenne diese Katze ihr gesamtes Leben lang, habe einige Zeiten intensiv begleiten dürfen und andere verpasst. Sie ist alt und krank. Alle in der Familie wissen, dass »Bira« eher früher als später das zeitliche segnen wird. Für mich war das bisher immer okay und eben Teil des Lebens. Doch das hat sich inzwischen geändert und ich würde ihre Zeit gerne etwas zurückdrehen. Ihr Dasein verlängern.
Es bricht mir jeden Tag aufs neue das Herz wenn ich sehe, welche frische und intensive Verbindung Kiddo 2 mit diesem Tier aufgebaut hat und welche Lücke dadurch entstehen wird. Es wird unweigerlich eine (sehr) prägende sein.
Generell hätte niemand von uns gedacht, dass die letzten Jahre mit dieser Katze uns so viel über Bedürfnisse und das Altern beibringen werden. Sie hat erstaunlich intensiv unseren Alltag beeinflusst, ist stoisch und zäh.

Wenn die Großeltern – wo »Bira« lebt und hingehört – nicht da sind, gehen wir jeden Tag mehrfach zu dieser alten Katzendame, um ihr in kleinen Häppchen Fressen zu geben.
Das »wir« besteht dabei immer aus diesem kleinen und zu dieser Zeit besonders fürsorglichen Kind – das dann sucht, kuschelt und Freude in einem irren Ausmaß verspürt –und einem anderen Familienmitglied. Erstmal nichts ungewöhnliches, stimmt – aber dabei entsteht vor uns allen eine Gefühlswelt, die auch von außen irre stark zu sehen ist.
Es ist die Sehnsucht nach der Nähe dieses Lebewesens.
Die Sorge, wenn diese alte Katze anstalten macht – unsicher, wackelig und offensichtlich etwas verwirrt – das Haus zu verlassen.
Die Liebe, die durch freudiges Hüpfen, quiekendes Auflachen oder dem kichernden Erzählen des gemeinsam Erlebten herauskommt. Das nacheinander Suchen und Begleiten. Es ist eine Freundschaft.
Ein tägliches Wiedersehen von zwei Persönlichkeiten, die sich aufeinander eingelassen haben.
Wenn das Kind unten ist, kommt Bewegung in die alten Knochen dieser Katze. Ein unsichtbares Band führt die beiden zueinander.
Wenn das Kind nicht kommt, dann kommt die Katze.
Wenn die Katze nicht kommt, dann kommt das Kind. Manchmal sitzen sie einfach nur beieinander und genießen die gemeinsame Zeit. Als würden sie zusammen in Erinnerungen schwelgen.
Da wächst gerade so viel!
Die wachsende Verbindung wird täglich deutlicher. Es treffen gerade zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten:
Die Eine, die bereits so viel erlebt hat und eine unglaubliche und gleichzeitig verblassende Weisheit in sich trägt.
Die Andere, die aufgeweckt und neugierig ist und alles aufsaugt was ihr über den Weg läuft. Sie geben einander viel und »Bira« wird als etwas wertvolles umsorgt und beschützt.
Der Tag also, an dem wir runter gehen, »Bira« nicht auf dem Sofa liegt und auf Kiddo 2 wartet. Der Tag, an dem sie auch nicht auf dem warmen Fußboden im Badezimmer zu finden ist… der wird eine Welle aus Gefühlen und ungestillten Bedürfnissen erzeugen. Er wird eine Erfahrung in die Lebensgeschichte eines kleinen Wesens schreiben, die wir als Eltern nur verständnisvoll, voller Geduld, Wärme und Mitgefühl begleiten können.
Es wird der erste große Verlust.
Was davon für eine Erinnerung bleibt, das finden wir erst in ein paar Monaten oder Jahren heraus. Das kennen wir schon – von Kiddo 1 und unserer Hündin. Das Kind war gerade zwei Jahre alt und dieser Hund war plötzlich »weg«. Wir haben erklärt warum, sitzen jedoch erstaunlich oft zusammen und wie aus dem Nichts kommt eine Geschichte, eine Frage oder eine Aussage zur Hündin. Klare Gedanken und scheinbar klare Erinnerungen. Manche davon haben wir selbst vergessen.
Das Kind ist jetzt fünf, wir haben keine Fotos mit der Hündin an den Wänden und reden auch inzwischen nicht mehr viel von ihr, aber die zwei Jahre haben gereicht, um einen Platz einzunehmen, der beim Kind bis heute etwas auslöst.
Wir haben darüber keine Kontrolle. Wir sind alsonach Möglichkeit für die Kinder da und zeigen ihnen, dass wir sie und ihre Gefühle wahrnehmen. Dass Verluste uns begleiten werden und wir das nicht ändern können. Aber wir zeigen auch, dass neue Türen aufgehen und viel Platz zum wachsen und Neues entsteht.
Genau das ist doch unser Part und die (prägenden) Eindrücke, Erinnerungen und Erfahrungen lassen unsere Kinder selbst in ihr Herz.
Da ist also gerade dieser kleine Mensch auf dem Weg zum ich, der immer grösser werdenden Selbstbestimmung und zum ersten sichtbaren Verlust und dann sind da meine Gefühle, die Angst vor dem was kommt, die Sorge, ob wir als Eltern fähig sind die Gefühlswelt zu verstehen.
Und da ist diese Frage, in grell leuchtender Neonfarbe: Wie groß kann diese Lücke werden?
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